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VIRUS TROPICAL

Powerpaola spricht im Interview mit Übersetzerin Lea Hübner über die Entstehungsgeschichte ihres autobiografischen Comics VIRUS TROPICAL, wie das Buch zu einem animierten Film wurde, was die Comicszenen Lateinamerikas so besonders macht und über ihre Erfahrungen mit dem Kollektiv Chicks on Comics.

Liebe Paola, wir freuen uns sehr, dich als Autorin unseres Verlags zu begrüßen und dein Werk VIRUS TROPICAL auf Deutsch herauszubringen. Darin stellst du dich als die Tochter eines Ex-Priesters und einer Mystikerin vor und du schilderst viele Ortswechsel, von Ecuador nach Kolumbien und dort auch wieder von Cali nach Medellín. Inwiefern sind Religion, Migration und interkulturelle Erfahrungen so etwas wie ein nie verhallendes Echo auch in deinem jetztigen Leben? … Jedenfalls bist du nach wie vor sehr reiselustig.

Ich freue mich auch sehr über die Übersetzung von Virus Tropical ins Deutsche und darüber, dass ihr es seid, die sich um die Publikation gekümmert haben, das war ein lang gehegter Traum von mir.
Ich glaube, die Erfahrungen der Kindheit prägen uns für immer – bei mir kam da diese heidnische Mischung zustande: ein Cocktail aus Katholizismus und magischem Denken: religiöse Bilder, Inkazeichnungen, tropische Gewächse, Engel, Primitive Kunst, Jungfrauen und Tiere.


Auch dieses ständige Umherziehen hat mich geprägt, und das fing nicht erst bei mir an, oder bei meinen Eltern, sondern schon wesentlich früher, das ist in meinem Unbewussten verankert. Dieses Nomadische ist eine Vorgabe meiner Ahnen und es hat mir ermöglicht, die Dinge aus vielen verschiedenen Perspektiven zu sehen. Früher war für mich diese Ortlosigkeit, dieses Nichtdazugehören zu einem Ort, einer Richtung, einer ästhetischen Linie etwas, worunter ich litt, eine Hürde, später entwickelte ich daraus eine Stärke. Inzwischen finde ich Gefallen daran, auf dieser Grenze heimisch zu sein, dieser Nicht-Identifikation, ich mag diese kulturelle und künstlerische Unbestimmtheit. Ich bin nicht nur ecuadorianisch oder kolumbianisch oder argentinisch, nicht nur Zeichnerin oder Malerin oder Schriftstellerin. Es ist toll, in all diesen verschiedenen Welten zu sein und sie sollen expandieren. Wie ein Leben ohne Grenzen.

Die Umsetzung von Virus tropical als Langfilm, der auch bei uns auf der Berlinale 2018 zu sehen war, wie funktionierte das? Du warst ja sicherlich in den Entstehungsprozess involviert, doch wie genau lief das und was war dein Part?

Der Film Virus Tropical wurde von Santiago Caicedo realisiert, das Drehbuch hat mein Exmann Enrique Lozano geschrieben, die Musik stammt von Adriana García Galán, alle sind Freund*innen, meine Wahlfamilie. Die Zeichnungen für den Film sind fast komplett von mir, fünf Jahre habe ich nonstop gearbeitet, über fünftausend Zeichnungen per Hand angefertigt. Wir hatten mehrere Preise bekommen, um den Film nach unseren Vorstellungen machen zu können. Es war eine Arbeit im Kollektiv und diese Miteinander ist das wertvollste an der ganzen Erfahrung — die Zusammenarbeit mit Leuten, mit denen man eine besondere Zeit erlebt, die derselben Generation angehören, die aus demselben Zusammenhang stammen, obendrein Menschen, die ich gern habe und bewundere.  

Du bist Teil der argentinischen Comicszene, hast zudem in Paris gelebt und die frankophone Bande Dessinée kennenglernt. Was sind deiner Meinung nach, grob gesagt, die Hauptunterschiede  zwischen der lateinamerikanischen und der europäischen Comicszene? Magst du deine Beobachtungen zu Unterschieden schildern, was die jeweiligen Märkte angeht, die unterschiedlichen Stile  … Dinge,

die dir aufgefallen sind?

Als ich in Paris war, habe ich gemalt und gezeichnet; ich habe mit einer Kunstgalerie zusammengearbeitet (Miss China Rue Française) und wohnte in der Artists Residence Cité Internationale des Arts. Meine Welt waren eher die visuellen Künste, gar nicht so der Comic. Dennoch lernte ich dort die Welt der Bande Dessinée kennen und habe auf diese Weise Französisch gelernt. Die Art Comic, die mich am stärksten anzog, ging in Richtung Art brut, mit einem Zeichenstil, der mich berührte und mit dem ich mehr anfangen konnte. Und der mich von der vorgefassten Meinung darüber, wie ein Comic zu sein hatte, weg führte. Mich interessierte vor allem die Lektüre weiblicher Comicschaffender. Von Lateinamerika war mir nur Maitena(1) bekannt, die mehr von Cartoon und Karikatur herkam, so dass ich noch keine Frauen gelesen hatte, die längere Geschichten erzählten. Das fand ich frappierend und ich bekam Lust, selbst Comics zu machen.

(1) Maitena Burundarena, argentinische Cartoonistin und Comiczeichnerin, deren bekannteste Comicstrip-Serie Mujeres alteradas auch in der spanischen Zeitung El País erschien (deutsch: Wunderbare Weibsbilder, Lappan 2005).

 

Um an dieser Stelle die Frage nach den Unterschieden zwischen lateinamerikanischen  und europäischen Comics zu vertiefen, sind das, sagen wir, verschiedene Welten, oder gibt es Überschneidungen, Verbindungen, gegenseitige Einflüsse?

Es gibt ja innerhalb der Welt des Comics ganz verschiedene Welten. Da gibt es den eher klassischen Comic, mit ähnlicher Erscheinung, egal ob in Frankreich entstanden oder in Argentinien, doch im übrigen Lateinamerika finde ich spürbar, dass dieses „Gepäck“ nicht vorhanden ist und die Autor*innen sich den Geschichten, die sie zu erzählen haben, auf eine sehr authentische Art und Weise annehmen, ohne vorgefertigte Ideen. Im Allgemeinen sind wir ziemliche Amateure, aber, wie schon erwähnt, finde ich das ergreifend und besonders: das Bedürfnis, eine Geschichte zu erzählen ist wichtiger als eine Technik oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Abteilung oder Richtung innerhalb dieser ganzen Welten. Auf der Welt an sich ähnelt sich allgemein alles immer stärker und mir gefällt es, das Besondere zu festzuhalten, das was du siehst und was du glaubst, dass es mit nichts von dem zu vergleichen ist, was du zuvor gesehen hast. Was dekonstruiert und echt ist.

 

Ist in Argentinien das Medium Comic stark in der Kultur des Landes verankert? Wir sind besonders vom Tun von Präsenz den Frauen* fasziniert, die in Argentinien, wie es scheint, schon vor längerem stark zugenommen hat – bei uns ist das ein etwas jüngeres Phänomen, das vergleichsweise unauffällig daherkommt, zum Beispiel gibt es hier keine Comicfestivals nur von Frauen*, wie sie in Argentinien stattfinden, keinen solchen spürbaren Zusammenhalt. Was kannst du als Mitgründerin der Chicks on Comics dazu berichten?

Das stimmt, es gehört zu unserem Selbstverständnis und allgemein ist die argentinische eine solidarische Kultur und Gesellschaft. Das sage ich aus eigener Erfahrung.
Ich glaube, dass das, was die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo(2) seit den Zeiten der Diktatur getan haben, sich in der Kultur gespiegelt und abgefärbt hat, ja ansteckend war für das gesellschaftliche Miteinander und alle geprägt hat. Wie VEREINTES Tun und arbeiten im Kollektiv für all uns Frauen* gegenseitige Hilfe brachte und so Dinge zu schaffen waren, die einzeln niemals möglich gewesen wären. Es ist sehr bewegend mit anderen zusammenzuarbeiten, Dinge auszuhandeln, andere Meinungen anzuhören, das hat für mich etwas Revolutionäres, etwas für das sich einzusetzen sich allemal lohnt.
Wir haben Chicks on Comics 2008 ins Leben gerufen, Joris Bas Backer und ich. Wir hatten noch keine Mitstreiter*innen und ich lud meine argentinischen Bekannten ein und er (damals sie) seine europäischen Kolleg*innen. Wir hatten uns vorgestellt, dass es wie eine Gruppe von Mädchen sein würde, die gemeinsam zeichnen und sich kennenlernen wollen, die wissen wollen, was los ist in so einer männlich dominierten Welt und am Ende entwickelte sich daraus etwas vollkommen Ungeahntes. Eine Art Matrix von Frauen, die kommen und gehen, ein internationaler Organismus, der ein Eigenleben führt und der im Wesentlichen von der Lust am Zeichnen und Geschichten erzählen lebt.
(2) Die Madres/Abuelas de la Plaza de Mayo begannen ab 1977 jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo im Zentrum von Buenos Aires vor dem Präsidentenpalast gegen die  Militärdiktatur (1976-1983) zu demonstrierten und die Aufklärung des Verbleibs ihrer „verschwundengelassenen“ Töchter, Söhne, Männer, später Enkel zu fordern, ein Unterfangen, das sie, trotz Einschüchterungen und der Ermordung von drei ihrer Anführerinnen  hartnäckig weiterbetrieben. Ihr weißes Kopftuch ist Symbol ihres Widerstandes und Kampfes für Gerechtigkeit. Sie sind maßgeblich an der Klärung der Identität von der Militärjunta entführter Kinder beteiligt. 2011 erhielten sie den UNESCO-Friedenspreis.